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Data Insight
— Case 002 —

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Scientia, Ordo und Humanitas bilden den ideellen Kern der AG-AIM. Als moderne Forschungsgruppe verstehen wir diesen Dreiklang als Selbstverpflichtung zu wissenschaftlicher Exzellenz (scientia), methodischer Präzision (ordo) und menschlicher Verantwortung (humanitas).

Scientia sine ordine vana est.
Ordo sine humanitate vacuus est.
Humanitas sine scientia caeca est.

Wissenschaft ohne Ordnung ist ziellos. Ordnung ohne Menschlichkeit ist leer. Menschlichkeit ohne Wissenschaft ist blind.
Patient mit Sepsis
Hintergrund

Antipyretika bei kritisch Kranken

Fieber ist ein häufiger Befund auf Intensivstationen, doch seine Behandlung ist umstritten. Einerseits kann eine Temperaturreduktion das subjektive Befinden und die Kreislaufbelastung verbessern. Andererseits gilt Fieber auch als mögliche Abwehrreaktion gegen Infektionen. Dipyrone (Metamizol) und Acetaminophen (Paracetamol) zählen zu den am häufigsten eingesetzten Antipyretika. Beide Substanzen sind jedoch mit potenziellen Nebenwirkungen verbunden, darunter hämatologische, renale und hepatotoxische Komplikationen. Anders als bei Acetaminophen, fehlen für Dipyrone aussagekräftige Daten. Frühere Studien sind meist klein und teilweise ohne Kontrollgruppe.

Überprüfung von Dipyrone und Acetaminophen

in der Fieberkontrolle bei kritisch Kranken

Hintergrund unserer Studie: The antipyretic effectiveness of dipyrone in the intensive care unit: A retrospective cohort study — erschienen in PLOS ONE — war die lückenhafte Datenlage zur Fiebersenkung bei kritisch kranken Patient:innen. Während für Acetaminophen bereits randomisierte Studien vorliegen, gibt es für Dipyrone bislang kaum belastbare Evidenz. Ziel war es daher, den Temperaturverlauf in der frühen Phase nach Medikation systematisch mit einer unbehandelten Kontrollgruppe zu vergleichen.

Untersucht wurde eine retrospektive monozentrische Kohorte von 937 Intensivpatient:innen (MHH). Die drei Vergleichsgruppen:

  • Dipyrone intravenös (n = 341)
  • Acetaminophen intravenös (n = 71)
  • Kontrollgruppe ohne antipyretische Medikation (n = 315)

Der primäre Endpunkt war die maximale Abnahme der Körpertemperatur innerhalb der ersten acht Stunden nach dem Temperaturmaximum oder nach Medikamentengabe. Temperaturen wurden stündlich dokumentiert, analysiert wurden Medianwerte, Perzentile und 95 %-Konfidenzintervalle. Die Auswertung erfolgte mithilfe nichtparametrischer Tests (Kruskal-Wallis).

Temperaturverlauf bis 8 Stunden nach Verabreichung bzw. Beginn der Messung

Das Liniendiagramm zeigt den medianen Temperaturverlauf mit Interquartilsabständen. Acetaminophen führte bereits nach zwei Stunden zu einer deutlichen, jedoch kurzzeitigen Temperaturreduktion. Dipyrone zeigte ab vier Stunden einen stärkeren Abfall als die Kontrollgruppe. In allen Gruppen war über acht Stunden ein spontaner Temperaturabfall nachweisbar.
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P25 und P75 beziehen sich auf die Interquartilsabstände (25.–75. Perzentil).

Temperaturverteilung je Zeitpunkt

Boxplots verdeutlichen Unterschiede zwischen den Gruppen

Die Boxplots für 2, 4, 6 und 8 Stunden zeigen Median, Quartile und Whisker sowie 95 %-Konfidenzintervalle der Mittelwerte. P-Werte stammen aus Kruskal-Wallis-Tests, signifikante Unterschiede sind hervorgehoben. Besonders relevant: Nach zwei Stunden war die Temperaturreduktion unter Acetaminophen stärker als unter Dipyrone oder in der Kontrollgruppe, ab vier Stunden zeigte Dipyrone einen Vorteil gegenüber keiner Medikation.
Quelle: Gillmann HJ, Reichart J, Leffler A, Stueber T. The antipyretic effectiveness of dipyrone in the intensive care unit: A retrospective cohort study. PLoS One. 2022 Mar 10;17(3):e0264440. doi: 10.1371/journal.pone.0264440. PMID: 35271621; PMCID: PMC8912151. (Für Visualisierung modifiziert).

Ergebnisse

Zentrale Beobachtungen

Alle Gruppen zeigten einen Temperaturabfall im Zeitverlauf.
Acetaminophen wirkte schnell, aber nicht nachhaltig.
Dipyrone zeigte ab vier Stunden eine stärkere Wirkung als keine Therapie.
Über acht Stunden war die Differenz zwischen den Medikamenten gering, die Effekte insgesamt moderat.
Auch unbehandelte Patient:innen hatten einen spontanen Temperaturabfall von etwa 0,6–0,7 °C.

Konklusion

Unsere Studie legt nahe, dass die antipyretische Effektivität von Dipyrone bei kritisch kranken Patienten überschätzt wird. Zwar kam es nach Gabe von Dipyrone zu einem medianen Temperaturabfall von –0,8 °C innerhalb von acht Stunden, jedoch zeigte sich ein vergleichbarer spontaner Abfall auch ohne medikamentöse Behandlung.

Acetaminophen wirkte schneller, Dipyrone später, doch der Gesamtunterschied zwischen beiden Substanzen blieb gering (–0,1 bis –0,2 °C). Damit sind die klinischen Implikationen begrenzt: Fieberkontrolle mit Dipyrone oder Acetaminophen ist möglich, doch der Nutzen muss stets im Verhältnis zu potenziellen Risiken und Nebenwirkungen gesehen werden. Die Effektivität von Dipyrone in der Intensivmedizin dürfte daher eher überschätzt sein; belastbare Evidenz für einen routinemäßigen Einsatz fehlt bislang.

Die vollständige Studie ist als Open-Access-Artikel bei PLOS ONE verfügbar:

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Limitation
  • Retrospektives, monozentrisches Design ohne Randomisierung.
  • Unterschiede in den Gruppengrößen, kleine Acetaminophen-Kohorte.
  • Zeitpunkte von Medikation und Temperaturmessungen nicht standardisiert.
  • Keine systematische Erfassung von Nebenwirkungen.

Ausblick

Folgestudie in Vorbereitung

Die Ergebnisse unterstreichen die Notwendigkeit prospektiver, randomisierter Studien zur Wirksamkeit und Sicherheit von Dipyrone in der Intensivmedizin. Ein entsprechendes Projekt wird derzeit von AIM vorbereitet. Ziel ist es, in einem kontrollierten Setting belastbare Daten zu generieren, die über retrospektive Analysen hinausgehen. Informationen zu neuen Projekten finden Sie zukünftig in Updates.